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Disruption ohne Richtung: Wenn Zerstörung zur Ideologie wird

Es gibt kaum ein Schlagwort, das die Wirtschaftsrhetorik der letzten Jahre so geprägt hat wie „Disruption“. Ursprünglich vom österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter in seinem Werk Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie geprägt, meinte „schöpferische Zerstörung“ einen produktiven Umwälzungsprozess: Innovationen verdrängen das Alte, neue Märkte entstehen, Wohlstand wächst. Doch in Zeiten von Start-ups, Tech-Milliardären und Venture Capital scheint der ursprüngliche Sinn verloren gegangen. Statt Verbesserung zählt oft nur noch die Zerstörung an sich – als Beweis angeblicher Innovationskraft.

„Disruption ist heute ein inflationär verwendeter Begriff, der gerne als Motto und Key-Topic für Events jeder Art genutzt wird“, kritisiert Thorsten Herrmann, ein Experte für Innovationsmanagement, auf der Plattform Hypeinnovation. Und tatsächlich: Wo früher solide Produkte und durchdachte Dienstleistungen Erfolg brachten, reicht heute oft schon die Ankündigung, eine Branche „disruptiv zu revolutionieren“, um Millionen-Investitionen einzusammeln.

Kaum jemand hat diese Entwicklung schärfer kritisiert als Jill Lepore, Historikerin an der Harvard University. Sie nennt die Theorie der disruptiven Innovationen „gegründet auf Panik, Angst und wackeliger Beweiskraft“. Lepore hält viele angeblich disruptive Geschäftsmodelle für überbewertet – und ihre Erfolgsbilanzen für bestenfalls durchwachsen. Tatsächlich zeigt eine Untersuchung des Fraunhofer-Instituts, dass Unternehmen, die auf radikale Umbrüche setzen, oft an der praktischen Umsetzung scheitern. Disruptive Technologien werden zwar schnell entwickelt, aber selten nachhaltig in bestehende Strukturen integriert. Die Studie empfiehlt, frühzeitig systematische Bewertungsverfahren einzusetzen – ein Plädoyer für kluges Management statt blinden Aktionismus.

Auch der Kulturwissenschaftler Adrian Daub beschreibt in seinem Buch Was das Valley denken nennt die Paradoxie hinter dem Disruptions-Mythos: „Paradoxerweise ist die Disruption letzten Endes etwas wie Neuheit für Menschen, die sich vor Neuem fürchten.“ In Silicon Valley, so Daub, inszenieren Unternehmen ihre Innovationsfreude oft nur, während sie in Wahrheit bestehende Machtverhältnisse festigen. Disruption werde hier als eine Art moralische Rechtfertigung genutzt, um Regeln zu brechen, Märkte zu monopolisieren und soziale Sicherheiten abzubauen.

Ein besonders fragwürdiges Beispiel für Disruption als Selbstzweck bietet die Bildungsbranche. In der Euphorie um Digitalisierung werden herkömmliche Lehrmodelle oft vorschnell über Bord geworfen. Dabei, so mahnt die Friedrich-Naumann-Stiftung, dürfe Digitalisierung „kein Selbstzweck“ sein. Technik müsse die pädagogische Qualität unterstützen, nicht bloß den Anschein von Fortschritt erzeugen. Denn Bildung, so die Stiftung, sei mehr als reine Informationsvermittlung: Sie lebe von sozialen Kontakten, affektiver Entwicklung und kritischer Reflexion – Aspekte, die keine Lern-App ersetzen kann.

Ähnlich verhält es sich in anderen Branchen. Uber, Airbnb oder WeWork verkörpern einerseits klassische Beispiele für Disruption. Andererseits offenbaren sie auch die Risiken: aggressive Expansion, Vernachlässigung von Arbeitsrechten, Missachtung lokaler Gesetzgebung. WeWork, das einst als Revolution des Büroalltags gefeiert wurde, stürzte spektakulär ab – mit Milliardenverlusten und einem inzwischen berüchtigten Gründer, dessen Vision von „kultureller Disruption“ letztlich kaum mehr war als ein Sammelsurium leerer Versprechen.

Statistiken untermauern die Skepsis. Laut einer Studie der Harvard Business Review (2021) schaffen es weniger als 30 Prozent der Unternehmen, disruptive Innovationen langfristig profitabel zu etablieren. Oft sind es gerade die angeblich „langweiligen“, kontinuierlichen Verbesserungen – also inkrementelle Innovationen –, die nachhaltigen Erfolg bringen.

Disruption ist eben kein Zauberwort, das automatisch Fortschritt erzeugt. Sie ist ein Risiko, ein Balanceakt – und sollte nie Selbstzweck sein. Ohne klare Richtung und gesellschaftliche Verantwortung kann der zerstörerische Impuls schnell zum Bumerang werden.

Zerstörung ist keine Strategie

Wer Disruption allein um ihrer selbst willen betreibt, betreibt ein riskantes Spiel. Zerstören ist einfach. Aufbauen ist schwer. Ohne belastbare Vision, ohne gesellschaftlichen Mehrwert bleibt am Ende nur verbrannte Erde – in Unternehmen, in Märkten, in der Gesellschaft. Joseph Schumpeter hatte schöpferische Zerstörung als Quelle von Innovation und Wohlstand verstanden. Heute aber, wo der Begriff vielfach pervertiert wird, gilt es, ihn gegen seine falschen Propheten zu verteidigen. Innovation braucht Substanz, Disruption braucht Verantwortung. Andernfalls bleibt sie nur ein Symbol für einen Fortschritt, der nie eintritt.

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